TIMSS
TIMSS 2023 ist der aktuelle Durchgang der größten internationalen Vergleichsstudie zu den mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungen von Schulkindern. TIMSS steht für „Trends in International Mathematics and Science Study“. Der Forschungsbericht zu den Ergebnissen aus Deutschland ist frei zugänglich: Waxmann Verlag GmbH: Bücher.
„Aufgrund des Testzeitpunktes im Frühjahr 2023 nahmen Viertklässler:innen teil, die die ersten beiden Schuljahre ihrer Grundschulzeit während der COVID-19-Pandemie erlebt haben. Die Kinder waren sowohl im Schuljahr 2019/20 als auch im Schuljahr 2020/21 von bundesweiten und regionalen Schulschließungen betroffen“. Die Ergebnisse von TIMSS 2023 sind also aus diesem Grund mit Vorbehalten zu interpretieren. Zudem verlangte TIMSS 2023 eine computerbasierte Bearbeitung der Aufgaben („Die Schüler:innen wurden in den Schulen mithilfe von Laptops getestet“), was bislang (noch) nicht dem üblichen Arbeiten der Kinder in den deutschen Grundschulen entspricht. Die Vorgängeruntersuchung TIMSS 2019 war die erste derartige Erhebung. Alle anderen TIMSS-Studien wurden papierbasiert durchgeführt. Die Autoren von TIMSS 2019 heben hervor „dass die in Deutschland getestete Population
der Viertklässlerinnen und Viertklässler typischerweise keine Computer oder
eher selten Computer im Unterricht nutzt. Dementsprechend dürfte es für viele
Kinder ungewohnt sein, Aufgaben im Mathematik- oder Sachunterricht am Computer
zu bearbeiten.“ Dieser Umstand führt zu weiteren Limitationen bei der Interpretation der beiden letzten TIMSS-Durchgänge. Wir besprechen deshalb den aktuellen Bericht zu TIMSS 2023 und auch den zu TIMSS 2019 erst im Anschluss an eine detaillierte Erörterung der letzten papierbasierten Untersuchung TIMSS 2015. Der Bericht zu TIMSS 2019 kann hier eingesehen werden:
https://www.waxmann.com/index.php?eID=download&buchnr=4319.
Der Bericht zu TIMSS 2015 ist ebenfalls frei verfügbar:
https://www.waxmann.com/fileadmin/media/zusatztexte/3566Volltext.pdf
Deutsche Schulkinder zeigten laut TIMSS 2015 am Ende der vierten Jahrgangsstufe eine auffällig schwache Leistung in Mathematik, was auch in den Medien Niederschlag fand (siehe z.B. den Spiegel-Artikel „Deutsche Schüler haben ein Mathe-Problem“, URL: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/timss-studie-deutsche-grundschueler-haben-ein-mathe-problem-a-1123472.html)
Die schwache Leistung der deutschen Schulkinder in Mathematik (signifikant schlechter als in den Vergleichsländern aus der EU und aus der OECD) ist allerdings allein durch das auffällig schlechte Ergebnis im Inhaltsbereich „Arithmetik“ (Rechnen) bedingt. Dieses schlechte Abschneiden am Ende der 4. Klassen, speziell im Rechnen - nicht in den Inhaltsbereichen „Geometrie/Messen“ oder „Umgang mit Daten“, könnte mit der verdrehten Zahlensprechweise im Deutschen zusammenhängen. Denn deutschsprachige Schulkinder müssen gegen die herkömmliche Sprechweise der Zahlen das Stellenwertsystem erlernen. Aus mathematik-didaktischer Sicht torpediert diese Zahlbenennung im Deutschen eine strukturierte Zahlauffassung.
Somit ergibt sich aus den Ergebnissen von TIMSS unmittelbar die Hypothese („Zwanzigeins-Hypothese“), dass die verdrehte Zahlensprechweise im Deutschen eine nachteilige Auswirkung auf die mathematischen Leistungen der deutschsprachigen Schulkinder hat. Der Verein schlägt daher vor, dass diese Hypothese auch in der Pädagogik mit wissenschaftlichen Methoden empirisch untersucht wird.
Die folgende Aussage von Frau Ekström, die sich auf die weniger spezifische PISA-Studie von 2010 und auf einen allgemeinen Vergleich mit Schweden und Norwegen sowie auf 15jährige Kinder bezieht, ist aufgrund von TIMSS 2015 zu relativieren: „Weiterhin stelle ich mich sehr skeptisch gegen die Behauptung, dass eine Änderung Erleichterung beim Rechnen bringen würde. Wahrscheinlich beruhen die Leistungen beim Rechnen vielmehr auf die Qualität des Mathematikunterrichts als auf der Sprechweise der Zahlwörter. Die PISA-Ergebnisse zeugen tatsächlich auch davon, dass Deutschland und die Schweiz bessere Mathematikleistungen aufweisen, als Schweden und Norwegen (PISA, 2010:136)“ (siehe: http://su.diva-portal.org/smash/get/diva2:532990/FULLTEXT01). Es ist unstrittig, und auch ein zentrales Ergebnis von TIMSS 2015, dass die mathematischen Leistungen der Schulkinder von vielen Einflussgrößen abhängen. Dies schließt aber die „Zwanzigeins-Hypothese“ nicht aus. Im Gegenteil, diese Hypothese wird durch TIMSS 2015 als eine der vielen möglichen Ursachen für Leistungsunterschiede nahegelegt.
Die AG Zwanzigeins – Empirische Studien hat die deutsche TIMSS 2015-Projektleitung am Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund kontaktiert. Gemeinsam wurde im TIMSS-2015-Instrumentarium die spezielle Aufgabe M01_01 („convert words to numerals“) identifiziert, die zum Testen der Zwanzigeins-Hypothese geeignet erschien. Bei dieser Aufgabe wurden die Schulkinder gebeten, eine vierstellige Zahl, die in Worten geschrieben war (z.B. viertausendachtundzwanzig) in eine indisch-arabische Ziffernzahl zu übersetzen; gegeben waren vier Antwortoptionen im Multiple-Choice-Format. Auf Vorschlag von Frau Dr. Wendt, Erstautorin des deutschen TIMSS-2015-Berichts, wurde geprüft, ob sich die Fehlerhäufigkeiten in Deutschland und den fünf an TIMSS teilnehmenden asiatisch-pazifischen Staaten/Städten Singapur, Hong Kong, Korea, Japan und Taiwan entsprechend der Zwanzigeins-Hypothese unterscheiden, denn in diesen asiatisch-pazifischen Staaten/Städten wird stellenwertgerecht gesprochen. Die ermittelten Fehlerhäufigkeiten waren in Übereinstimmung mit der Hypothese: 8,3% vs. 4,0% (Unterschied statistisch signifikant). Weitere Aufgabenstellungen aus TIMSS scheinen nicht spezifisch geeignet, um die Hypothese zu prüfen (Beispiele für derartige spezifische Aufgaben: siehe die Untersuchungen zu Walisisch, Tamil, Chinesisch vs. Englisch). Der intensive Austausch mit Frau Dr. Wendt kann dem folgenden Protokoll zur Besprechung am 28. September 2017 (mit Nachtrag am 12. Dezember 2017) entnommen werden.
Protokoll_Besprechung_28.09.2017_mit update 12.12.2017.pdf
Eine detailliertere Darstellung von TIMSS und der Ergebnisse dieser wichtigsten Studie zur Leistungsfähigkeit von Grundschulkindern in Mathematik im internationalen Vergleich kann den folgenden Texten entnommen werden:
TIMSS_2015_verdrehte Zahlensprechweise_10Mai2017.pdf
Anhang_TIMSS_2015_verdrehte Zahlensprechweise_10Mai2017.pdf
Der aktuelle Durchgang TIMSS 2019 bestätigt die
Befunde von TIMSS 2015. So berichtete der Deutschlandfunk am 08.12.2020:
„Viertklässler kämen im Fach Mathematik nur auf 521 Punkte, heißt es in der internationalen Vergleichsstudie TIMSS. Dies sei deutlich unter dem Mittelwert der anderen teilnehmenden EU-Staaten von 527 Punkten. Jungen und Mädchen aus Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erzielten im Schnitt sogar 529 Punkte.“
Grundlage dieser Darstellung sind zwei Tabellen aus TIMSS 2019 (Abb. 3.5, S. 83 und Abb. 3.8, S. 119), aus denen wir die Leistungsmittelwerte und Standardfehler der Leistungsmittelwerte (in Klammern) für Deutschland und geeignete Vergleichsgruppen (VG) für die drei Inhaltsbereiche (Arithmetik, Messen/Geometrie, Daten) und gesamt entnehmen:
Arithmetik Messen/Geometrie Daten Gesamt
VG OECD 527 (0.5) 529 (0.5) 528 (0.6) 529 (0.5)
VG EU 527 (0.5) 528 (0.6) 522 (0.6) 527 (0.5)
Deutschland 517 (2.1) 531 (2.6) 515 (3.1) 521 (2.3)
Diese schwache Gesamtleistung der deutschen Schulkinder in Mathematik (signifikant schlechter als in den Vergleichsländern aus der EU und aus der OECD) liegt etwas niedriger als vier Jahre zuvor in TIMSS 2015, wo VG OECD = 528 (0.5), VG EU = 527 (0.6) und Deutschland = 522 (2.0). Dieser Rückgang kann nicht durch den Wechsel von papierbasierter zu computerbasierter Erhebung erklärt werden, denn die berichteten Leistungswerte wurden bereits wegen des Moduswechsels nach oben korrigiert: der originäre, also unkorrigierte Gesamtleistungswert der deutschen Schulkinder lag in TIMSS 2019 bei lediglich 509.8 (3.0) (Tabelle 5.2, S. 180).
Wie in TIMSS 2015 ist in TIMSS 2019 die Leistung der deutschen Schulkinder in Arithmetik signifikant schlechter als in den beiden Vergleichsgruppen, was - wie in TIMSS 2015 - die wesentliche Ursache für den schlechten Gesamtwert darstellt. Aber anders als bei TIMSS 2015 ist die niedrige Gesamtleistung in TIMSS 2019 zusätzlich auf eine nun auch schwache Leistung im Bereich „Daten“ zurückzuführen, wo in TIMSS 2015 noch ein Leistungswert von 535 (2.6) erreicht wurde. Die Ursache hierfür kann in einem Wechsel der Anforderungen im Bereich „Daten“ gesehen werden, denn in TIMSS 2015 lagen 17% der gestellten Aufgaben über dem Niveau der curricularen Anforderungen in Deutschland, aber in TIMSS 2019 waren es 28% der Aufgaben, z.B. Auswerten von Kreisdiagrammen und Liniendiagrammen.
Nach TIMSS 2023 ist „Deutschland einer von fünf teilnehmenden Staaten ist, für die keine signifikanten Leistungsunterschiede zwischen 2007 und 2023 zu verzeichnen sind. Ein ‚Aufwärtstrend‘ ist also ebenfalls nicht erkennbar. Darüber hinaus ist festzuhalten, …dass ein Viertel der Schüler:innen über unterdurchschnittliche mathematische Kompetenzen verfügt und das Weiterlernen dieser Kinder in der Sekundarstufe I im Fach Mathematik mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein kann. …. Aus Abbildung 3.9 geht für TIMSS 2023 hervor, dass in Deutschland im Bereich Arithmetik der gleiche Testwert wie in 2007 und signifikant höhere Testleistungen als in 2019 (+7) erzielt wurden.“ Insofern liefert TIMSS 2023 insgesamt keine geänderte Einschätzung der Mathematikkompetenz von Kindern im 4. Schuljahr in Deutschland, aber im Unterschied zu den Vorgängeruntersuchungen ist der in TIMSS 2015 und TIMSS 2019 auffällig niedrige Wert in Arithmetik nicht mehr gegeben. Zudem überrascht, dass „ein ‚Abwärtstrend‘ in den Leistungen der Schüler:innen, wie er im vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) durchgeführten IQB-Bildungstrend 2021 (Stanat et al., 2022) berichtet wurde, … nicht erkennbar [war].“ Siehe hierzu: Zwanzigeins – IQB-Bildungstrend. Auch die EU-Kommission berichtet einen solchen Abwärtstrend: so habe sich "der Anteil der 15-Jährigen ohne Grundkenntnisse in Mathematik seit 2012 hierzulande fast verdoppelt" (Deutschlandfunk, 18.12.2024). Aufgrund der oben erwähnten COVID-19-Problematik ist die Belastbarkeit von TIMSS 2023 als eingeschränkt zu betrachten. Und erst dann, wenn computerbasiertes Aufgabenlösen in den deutschen Grundschulen Normalität geworden ist, können von zukünftigen TIMSS-Studien auch in Details belastbarere Aussagen erwartet werden.
Erwähnenswert sind zudem die Ergebnisse zur fortgesetzten Motivationsmessung. Nach einer repräsentativen Studie für Bayern (Sakaki et al. 2023, Child Development 95, S. 276-295) sinkt die Motivation im Mathematikunterricht mit zunehmendem Alter der Kinder/Jugendlichen. Dies beobachtet auch die TIMSS 2023-Studie für Deutschland: "Angesichts der Bedeutung von motivationalen Orientierungen für die kurz- und langfristige Kompetenzentwicklung, aber auch für spätere Kurswahlen und Berufsentscheidungen ist die leichte aber stetige Abnahme der motivationalen Orientierungen im Mathematik- und naturwissenschaftsbezogenen Sachunterricht problematisch." Es sollte daher das Ziel sein, einen möglichst barrierefreien Zugang zur Mathematik zu schaffen und Freude an diesem Fach zu wecken bzw. aufrecht zu erhalten.
In der Gesamtschau ist die nachstehende Aussage, gefolgert aus der papierbasierten TIMSS 2015-Untersuchung, mit den aktuelleren, computerbasierten Durchgängen TIMSS 2019 und TIMMS 2023 verträglich und daher gerechtfertigt:
Die Ergebnisse von TIMSS korrespondieren mit der Hypothese („Zwanzigeins-Hypothese“), dass die verdrehte Zahlensprechweise im Deutschen eine nachteilige Auswirkung auf die mathematischen Leistungen der deutschsprachigen Schulkinder hat.