Stellenwertsystem
Günter Ziegler, ehemaliger Präsident der Deutschen Mathematiker Vereinigung (DMV), stellt in seinem provokanten Aufsatz „Mathematikunterricht liefert Antworten – auf welche Fragen?“ (Ziegler 2011) Mathematik in Form dreier Bereiche dar: als Wissensgebiet (I), als Werkzeugkasten (II) und als Forschungsgegenstand (III). Nach Ziegler „scheitert die Umsetzung eines Minimums von wirklich dringend benötigtem mathematischem Rüstzeug im Unterricht dramatisch“ (also Mathematik II), und „einer der Gründe ist fehlende Motivation, und die kommt daher, dass Kinder an Mathematik II nicht allein interessiert sind, wenn nicht Mathematik I und III dazukommen“ (Ziegler 2011, S. 177).
Wir greifen diese These auf und unterfüttern sie mit einem wichtigen Beispiel, dem Themenkomplex Stellenwertsystem und Ziffernrechnen, der eine zentrale Rolle im Mathematikunterricht einnimmt, denn offensichtlich ist ein „Verständnis für das Stellenwertsystem … für mathematische Kompetenzen fundamental“ (Hußmann und Nührenbörger 2024). Uns scheint darüber hinaus die gesellschaftliche Relevanz des Stellenwertsystems so herausragend zu sein, dass dessen kulturelle Komponente als Unterrichtsinhalt (Mathematik I) zum technischen Verständnis des Systems (Mathematik II) hinzutreten sollte. Wir zeigen, dass diese Wissensform die Kriterien der UNESCO-Konvention (UNESCO 2003) für ein immaterielles Kulturerbe der Menschheit erfüllt, woraus sich die Unterrichtsrelevanz der kulturellen Komponente von Stellenwertsystem und Ziffernrechnen gemäß der Zieglerschen These unmittelbar ergibt.
Das fundamentale Wissen um das Stellenwertsystem und die grundlegende Fertigkeit einer praktischen Zahlenbeherrschung werden von Generation zu Generation weitergegeben. Das Stellenwertsystem wird zu diesem Zweck in Deutschland an allen Schulformen in unterschiedlichem Tiefgang unterrichtet (z.B. Kultusministerkonferenz 2022, Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2008). Lehrpersonen werden ausgebildet, um Kinder in diese bedeutenden kulturellen Praktiken einzuführen (Kultusministerkonferenz 2019, DMV-GDM-MNU 2008). Die Unterrichtenden bilden daher einen wichtigen Teil der Trägerschaft dieser Kulturform. Ohne sie ginge das Wissen um das Stellenwertsystem und seine Anwendungen in bereits wenigen Generationen verloren. Die Zivilgesellschaft ist an dieser Kulturform somit intensiv beteiligt. Das Stellenwertsystem ist gesellschaftlich tief verankert.
Wir sehen daher kein Risiko für einen Verlust von Zahlendarstellungen mit indo-arabischen Ziffern im Stellenwertsystem. Allerdings erfordert die Arbeit an Geräten mit digitaler Eingabe einen fehlerfreien Einsatz des Stellenwertsystems, da keine Verdreher toleriert werden, wie sie durch die deutsche Zahlensprechweise, zum Beispiel ein-und-zwanzig statt zwanzig-eins, provoziert werden. Bei der Einführung des Stellenwertsystems wurde versäumt, eine entsprechende Anpassung der Zahlwörter vorzunehmen, obwohl es solche Vorschläge gab (Köbel 1517, S. 22; Köbel 1522, S. 13f). Bis heute steht im deutschsprachigen Raum eine solche Reform aus. Dies erschwert das Erlernen des Stellenwertsystems und den Umgang mit Zahlen (Gaidoschik 2015; Meyerhöfer 2015). Es gibt aktuelle Diskussionen und Reformbemühungen durch Zwanzigeins e.V. (Gerritzen 2008; Morfeld und Summer 2024).
Große Zahlen können in Systemen, die keine Stellenwertdarstellung kennen, gar nicht oder nur in sehr schwerfälliger Weise erfasst werden: Wie kann man eine Zahl wie 2100 mit römischen Ziffern ausdrücken? In den Naturwissenschaften werden Naturkonstanten verwendet, die sehr klein sind. Die elektrische Ladung eines Elektrons wird als 1,602*10-19 C angegeben. Mit solchen Größen kann man im Stellenwertsystem gut rechnen, aber im römischen System ist dies praktisch ausgeschlossen. Höhere Physik ist ohne Stellenwertsystem also unmöglich. Betrachten wir das moderne Börsenwesen. Die Aktienkurse werden in ständig veränderter Folge notiert, was voraussetzt, dass die nötigen Daten mit Hilfe von Computern und Algorithmen schnell ermittelt werden, was ohne Stellenwertsystem nicht realisierbar wäre. Börsen können ohne Stellenwertsystem nicht betrieben werden. Ähnliches gilt für viele andere Aktivitäten und Prozesse, insbesondere in der Industrie. Die Basis des digitalen Computers ist die effektive Verrechnung von Zahlen im Stellenwertsystem. Logische Operationen werden als Algorithmen auf Basis der Binärzahlen dargestellt (sog. Boolesche Algebra). Die Kodierung und Verarbeitung von Texten, Musik, Bildern und Filmen in Smartphones und Tablets findet in dieser Form statt. Ohne Stellenwertsystem ist Internet unmöglich. Das Stellenwertsystem ist auch die Grundlage weitergehender Entwicklungen, wie Computeralgebra und Künstlicher Intelligenz.
Spätestens vor 1500 Jahren wurde das dezimale Stellenwertsystem in Indien vollständig entwickelt. Um 825 u.Z. erarbeitete al-Ḫwārizmī in Bagdad, wie man die Grundrechenarten mit den indischen Ziffernzahlen ausführen kann. Diese Verfahren wurden in Anlehnung an seinen Namen später Algorithmen genannt. Alltägliches Rechnen, Wirtschaft, Mathematik und Naturwissenschaften profitierten in Europa von der Übernahme dieser revolutionären Neuerung. Al-Ḫwārizmīs Methoden haben heute alle Kulturkreise durchdrungen.
Dennoch ist in der deutschen Bevölkerung das Wissen nicht weit verbreitet, wie das Ziffernrechnen im Stellenwertsystem zu uns gekommen ist. Die Erarbeitung des Systems im indo-arabischen Raum sowie die Schwierigkeiten bei seiner nachhaltigen Einführung werden kaum realisiert. „Dezimalzahlen galten lange Zeit als Symbole des bösen muslimischen Feindes“ (al-Khalili 2013, S. 171). „Wir … werden uns der großartigen Systematik … und der gewaltigen Geistesleistung, die dieses System geschaffen hat, überhaupt nicht bewusst“ (Schellenberger 1953, S. 47). Es besteht zwar kein Verlustrisiko für dies immaterielle Erbe, aber es fehlt ein wesentlicher Teil zum kulturellen Verständnis dieses Erbes in weiten Teilen der Gesellschaft.
Stellenwertsystem und Ziffernrechnen bilden ein übergreifendes Kulturgut östlicher und westlicher Zivilisationen. Ein solches gemeinsam gelebtes Kulturerbe kann identitätsstiftend wirken und mithelfen, Grenzen zwischen verschiedenen Kulturkreisen zu überwinden, insbesondere angesichts des derzeitigen Spannungsfeldes zwischen europäischer und arabischer Kultur und Lebensform (Bakr et al. 2003).
Folgerung: Mathematik sollte in der Schule als ein wichtiger Teil unserer Kultur mit
langer Geschichte und als die Basis von Schlüsseltechnologien vermittelt
werden, und nicht nur als ein Werkzeugkasten. Dies trifft insbesondere auf das
Stellenwertsystem zu. Die UNESCO bezeichnet von Wissen und Können getragene
nicht-physische kulturelle Formen, die von Generation zu Generation
weitergegeben werden, als immaterielles Kulturerbe. Die Form Stellenwertsystem
und Ziffernrechnen erfüllt die Kriterien eines immateriellen
Kulturerbes der Menschheit. Die überragende kulturelle Bedeutung von Stellenwertsystem
und Ziffernrechnen sollte auch im Mathematikunterricht vermittelt
werden. Eine vollständige Umsetzung des Stellenwertprinzips, auch in der
Zahlwortstruktur, ist anzustreben.
Die Kulturform Stellenwertsystem und Ziffernrechnen verdient eine entsprechende Wertschätzung, denn dieses Kulturgut gehört zweifellos zu den großartigsten Errungenschaften der Menschheit (Barrow 2005, S. 148).
Die detaillierte Abhandlung dieses Themas unter dem Titel
Morfeld P, Gerritzen L (2024) Stellenwertsystem und Ziffernrechnen als immaterielles Kulturerbe der Menschheit: ein Unterrichtsgegenstand für die Mathematik?
ist hier frei verfügbar (Umfang = 41 Seiten):
Stellenw_IKE_11.07.2024.pdfDie oben zitierten Literaturstellen sind im Literaturverzeichnis der Arbeit enthalten.
[Prof. Dr. Lothar Gerritzen verstarb am 13. März 2024 während der Schlussbearbeitung des Manuskripts.]