Arabisch vs. Hebräisch

Arabisch und Hebräisch haben linksläufige Schriften, d.h. in der Regel wird in beiden Sprachen von rechts nach links geschrieben. Zahlen stellen aber eine Ausnahme dar, denn Ziffernzahlen werden üblicherweise absteigend im Stellenwertsystem, d.h. von links nach rechts geschrieben. Im Arabischen wird hierzu entweder die abendländisch-westarabische oder die ostarabische Zahlschrift verwendet, im Hebräischen die abendländisch-westarabische Ziffernform (Ganayim und Ibrahim 2014, S. 157).

Menninger (1958) erläutert zu diesen beiden Zahlschriften auf S. 228 (siehe auch die aktuellen Darstellungen: Eastern Arabic numerals - Wikipedia und Arabic numerals - Wikipedia):
Die ostarabische Zahlschrift ist die vorrangige Zifferndarstellung der arabisch-schreibenden Völker im Osten (z.B. Iran, Afghanistan), sie wird oft „indisch“ genannt (im Englischen z.B. Hindi digits, Indic numerals, Arabic-Indic numerals). Die westarabische Zahlschrift ist der unmittelbare Vorläufer unserer abendländischen Ziffernschrift und wird im Maghreb, also z.B. in Marokko und Tunesien vorrangig benutzt. Sie wird oft als „arabisch“ bezeichnet (im Englischen z.B. Arabic digits, Western digits, Western Arabic numerals, Ghubar numerals). In Ägypten, Sudan, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Pakistan werden zunehmend die abendländisch-westarabischen Zeichen verwendet.
Im Hebräischen werden kaum noch die Hebräischen Alphabet-Zahlen benutzt, da sie lediglich additiv aufgebaut sind, ihnen also kein Stellenwertsystem zugrunde liegt (Hebräische Zahlschrift – Wikipedia). Stattdessen werden die abendländisch-westarabischen Zahlzeichen verwendet.

Im Hebräischen wird stellenwertgerecht gesprochen, Hunderter-Zehner-Einer HZE, also so, wie die Zahlen geschrieben werden, d.h. gegen die linksläufige Schreibrichtung. Im Hebräischen ist also die Schreib- und Sprechweise von Zahlen in Übereinstimmung, aber gegen die allgemeine Schreibrichtung gerichtet. Dies gilt allerdings nur für die zweistelligen Zahlen von 21 bis 99, wie im Englischen, denn von 11 bis 19 ist die hebräische Zahlensprechweise verdreht.

Im Unterschied zum Hebräischen ist die Sprechweise der Zahlen im Arabischen durchgängig verdreht: die Zahlen werden im Arabischen so gesprochen wie traditionell im Deutschen (Hunderter-Einer-Zehner HEZ), allerdings heißt es auch eins-zehn und zwei-zehn für 11 und 12. Bei zweistelligen Zahlen ist also die Sprechweise mit der Linksläufigkeit der Schrift in Übereinstimmung, aber weder mit dem Stellenwertsystem noch mit der üblichen Zahlenschreibweise von links nach rechts. Für das Arabische stellt sich deshalb die Frage, ob nicht in Abweichung von der Regel zweistellige Zahlen auch häufig invers geschrieben werden, also erst Einer dann Zehner, um Sprechweise, Zahlenschreibweise und allgemeine Schreibrichtung zu harmonisieren.

Ganayim und Dowker (2022) untersuchten, ob Schulkinder und Studenten im Arabischen (Palästinensische Variante mit ostarabischer Zahlschrift) aufgrund der verdrehten Sprechweise von der grundsätzlichen Regel abweichen und zweistellige Zahlen auch invers schreiben, also zuerst den Einer und dann den Zehner. Es nahmen 287 Personen teil, von der Grundschule bis zum Studium. Sie stammten aus vorrangig arabischen Bereichen Israels und hatten Arabisch als Erstsprache. Die Schulkinder und Studierenden mussten Zahlen nach Diktat auf ein Blatt Papier in Ziffernform niederschreiben. Die untersuchten Personen schrieben in jeder der 4 Schulniveau-Gruppen (Grundschule bis Studium) vorrangig erst den Zehner, dann den Einer, und dies umso ausgeprägter ja älter die Personen waren. Allerdings gab es in allen Gruppen auch ein hierzu „inverses Schreiben“ in Richtung der üblichen arabischen Schreibrichtung. Selbst unter den Studierenden wurden noch ca. 10% der diktierten Zahlen invers geschrieben. Dies trat insbesondere bei zweistelligen Zahlen wie z.B. 67 auf, die weder glatte Zehner waren (wie 20), noch identische Ziffern hatten (wie 88). Ganayim und Dowker ziehen Schlussfolgerungen in Bezug auf den Mathematikunterricht, denn inverses Schreiben führt zu Fehlern, insbesondere an digitalen Endgeräten: „These findings … imply that educators should give attention to children’s mastery of the transcoding of verbal word two-digit numbers into Arabic digits, especially to their writing patterns for two-digit numbers (decades-first or units-first). This is especially true of languages with counting systems with the unit–decade inversion feature. The clear impact of the unit–decade inversion feature of two-digit number transcoding has implications for the planning of future mathematics curricula and textbooks.”

Ganayim und Ibrahim (2014) führten eine Studie an 18 Arabisch–Hebräisch-zweisprachigen Studierenden von der Ben-Gurion-Universität in Israel durch (9 Männer, 9 Frauen). Alle Personen hatten Arabisch als Erstsprache. Die Studierenden mussten Zahlen vergleichen, wobei allen Personen die Zahlen sowohl in Arabisch als auch in Hebräisch in unterschiedlichen Darstellungsformen präsentiert wurden. Aufgabe: Welche der beiden zweistelligen Zahlen ist größer? Wurden die Zahlen digital in Ziffernform am Bildschirm präsentiert (ostarabische Zahlzeichen im Arabischen, abendländisch-westarabische Zahlzeichen im Hebräischen), waren die Reaktionszeiten sehr ähnlich. Wurden Zahlwörter (in Arabisch bzw. in Hebräisch) am Bildschirm gezeigt, benötigten die Probanden länger und insbesondere dann, wenn die Zahlwörter in Hebräisch präsentiert wurden. Wurden also Zahlwörter präsentiert, ergaben sich für die Darstellung in der Erstsprache Vorteile. Wurden die Zahlen in Ziffernform präsentiert, verschwand dieser Vorteil der Erstsprache. Mögliche Erklärung: Wenn abendländisch-westarabische Zifferndarstellungen in Hebräisch gelesen werden, sind Zahlwort und Zifferndarstellung im Einklang (stellenwertgerechte Sprechweise), aber nicht, wenn ostarabische Zahlzeichen Arabisch gelesen werden (verdrehte Zahlensprechweise). Dieser strukturelle Vorteil (stellenwertgerechte Zahlensprechweise) des Hebräischen kompensiert den Nachteil des Hebräischen als Zweitsprache.

Diese Ergebnisse legen nahe, dass das Erlernen einer zweiten Zahlwortstruktur nicht zu Verwirrungen führt, sondern im Gegenteil Vorteile im Umgang mit Zahlen mit sich bringen kann. Diese Hypothese untersuchten Prior et al. (2015) an 63 Studierenden der Universität von Haifa näher: 31 Arabisch–Hebräisch und 32 Hebräisch–Englisch zweisprachige Erwachsene, d.h. mit Arabisch bzw. Hebräisch als Erstsprache. Die Personen mussten entscheiden, ob rein verbal (in Zahlwörtern, Arabisch oder Hebräisch) oder rein symbolisch (in Ziffernform, stets abendländisch-westarabisch) mit potentiellen Lösungen präsentierte Additionsaufgaben korrekt gelöst waren oder nicht. Die Aufgaben bestanden aus „einstellige Zahl + zweistellige Zahl“ (z.B. 4+21) bzw. aus „zweistellige Zahl + einstellige Zahl“ (z.B. 21+4), in Übereinstimmung mit invertierter bzw. stellenwertgerechter Zahlensprechweise. Eine Auswertung der Reaktionszeiten und Fehlerraten ergab, dass die Hebräisch–Englisch zweisprachigen Personen Aufgaben besser lösen konnten, die in nicht-invertierter Form präsentiert worden, während Arabisch–Hebräisch zweisprachige Personen beide Formen, invertiert und nicht invertiert, ähnlich gut bearbeiten konnten. Prior et al. folgerten, dass das Erlernen einen zweiten Zahlwortstruktur nicht schadet, sondern zu einer erhöhten Flexibilität im Umgang mit Zahlen führt, also Vorteile mit sich bringt.

Die von Prior und Mitarbeitern gestellten Additionsaufgaben waren für Studierende allerdings ohne große Herausforderung. Hayek und Mitarbeiter untersuchten ergänzend, ob sich Nachteile der verdrehten Sprechweise im Arabischen belegen lassen, wenn dreistellige Zahlen verarbeitet werden mussten. 
Hayek et al. (2019 bzw. 2025) untersuchten 25 bzw. 17 Personen mit Erstsprache Arabisch, die gleichzeitig Hebräisch fließend als Zweitsprache beherrschten. Zudem 21 bzw. 16 Personen, die Arabisch als Erst- und Englisch als Zweitsprache sprachen. Alle Personen studierten an der Haifa Universität in Israel. Die Aufgabe bestand darin, präsentierte Zahlen möglichst schnell handschriftlich am PC in Dezimalform (abendländisch-westeuropäisch) zu notieren bzw. als Dezimalzahl (abendländisch-westeuropäisch) einzutippen (Transkodieraufgabe). Dreistellige Zahlen zwischen 121 und 987 wurden zufällig gewählt und am Bildschirm in Zahlwörtern (Arabisch verdreht, Arabisch unverdreht, Hebräisch verdreht, Hebräisch unverdreht) oder per Kopfhörer akustisch als gesprochenes Zahlwort (Arabisch verdreht, Arabisch unverdreht, Hebräisch verdreht, Hebräisch unverdreht) angeboten. Jede Person wurde in diesen 8 Situationen getestet. Dabei wurden neben den üblichen Zahlwortstrukturen, d.h. Arabisch verdreht: HEZ (Hunderter-Einer-Zehner), Hebräisch unverdreht: HZE (Hunderter-Zehner-Einer), auch die unbekannten Versionen, d.h. HZE in Arabisch und HEZ in Hebräisch getestet. 
Personen mit Arabisch als Erstsprache und auch solche mit Hebräisch als Erstsprache waren schneller, wenn ihnen in Englisch die Zahlwörter im üblichen stellenwertgerechten Format HZE präsentiert wurden als im verdrehten Format HEZ, und dies galt für beide Präsentationssituationen (visuell, akustisch) und beide Eingabesituationen (handschriftlich, digital). 
Hauptergebnis der Untersuchungen: Personen mit Arabisch als Erstsprache waren schneller, wenn ihnen die arabischen Zahlwörter im unbekannten, stellenwertgerechten Format HZE präsentiert wurden als im üblichen, verdrehten Format HEZ, und dies galt sowohl für die visuelle als auch für die akustische Präsentation der Zahlwörter sowie bei handschriftlicher und bei digitaler Eingabe. 
Hayek und Mitarbeiter zeigten somit, dass bei etwas erhöhter Anforderung (Transkodierung dreistelliger statt zweistelliger Zahlen) auch in Erwachsenen, die in der verdrehten Zahlensprechweise über viele Jahre gut trainiert sind, ein eindeutiger Vorteil der ungewohnten, stellenwertgerechten Zahlensprechweise nachzuweisen ist. Die Nachteile der verdrehten Zahlwörter konnten somit selbst durch intensives, jahrzehntelanges Üben nicht kompensiert werden. 
“Our results challenge the assumption that the effects of UD inversion disappear in adulthood due to increased experience and skill…  The persistence of inversion effects even with typing suggests these effects remain robust in skilled adults.” (Hayek et al. 2025). 

Die Untersuchungen zu Arabisch und Hebräisch zeigen, dass es klare Vorteile einer stellenwertgerechten Zahlensprechweise auch in linksläufigen Schriftsprachen gibt, diese Vorteile auch bei Erwachsenen nachzuweisen sind und keine Störungen (Interferenzen) durch das Erlernen der stellenwertgerechten Form neben der üblichen, verdrehten Form der Erstsprache auftreten.


Literatur

Ganayim D, Dowker A (2022) Writing Units or Decades First in Two Digit Numbers Dictation Tasks: The Case of Arabic an Inverted Language. Med. Sci. Forum 2022, 8, 10. DOI: https://doi.org/10.3390/IECBS2021-10654

Ganayim D, Ibrahim R (2014) Number processing of Arabic and Hebrew bilinguals: Evidence supporting the distance effect. Japanese Psychological Research 56, No. 2, 153–167

Hayek M, Karni A, Eviatar Z (2019) Transcoding number words by bilingual speakers of Arabic: writing multi-digit numbers in a units-decades inverting language. Writing Systems Research, 11:2, 188-202, DOI: 10.1080/17586801.2020.1787298

Hayek M, Dorfberger S, Eviatar Z, Karni A (2025) Transcoding number words to multi-digit numerals: the strange case of Arabic bilinguals. Psychological Research 89, 70. DOI: https://doi.org/10.1007/s00426-025-02097-1 

Menninger K (1958) Zahlwort und Ziffer. Eine Kulturgeschichte der Zahl (Band I:  Zählreihe und Zahlsprache, Band II: Zahlschrift und Rechnen), 2. Auflage. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen

Prior A, Katz M, Mahajna I, Rubinsten O (2015) Number word structure in first and second language influences arithmetic skills. Front. Psychol.6:266. DOI: 10.3389/fpsyg.2015.00266