Deutsch und Niederländisch – Auswirkungen der irregulären Zahlensprechweise
Im Deutschen und Niederländischen ist die Zahlensprechweise stark irregulär. Neben dem durchgängigen Drehen von Zehnern und Einern (wenn der Einer nicht Null ist) sind auch Zahlwörter abweichend vom Stellenwertprinzip konstruiert: zehneins und zehnzwei werden in beiden Sprachen nicht verwendet und auch Dekaden (glatte Zehner) werden abweichend vom entsprechenden Einernamen benannt. So heißt es im Deutschen nicht „einszig“ oder "einzig" (wenn wir die Konstruktion mit „zig“ als Prinzip voraussetzen) sondern „zehn“, nicht „zweizig“ sondern „zwanzig“ und nicht „siebenzig“ sondern „siebzig“. Im Niederländischen ist diese abweichende Benennung noch ausgeprägter: statt „eentig“ heißt es „tien“, statt „tweetig“ heißt es „twintig“, statt „drietig“ „dertig“, statt „viertig“ „veertig“ und statt „achtig“ „tachtig“. Van der Ven 2017 argumentierten, dass sich diese doppelte Problematik teilweise kompensiert, ja hilfreich sein kann beim Meistern der Verdrehregeln: „For example, when hearing ‘twee-en-dertig’ (‘two-and-thirty’; 32), two cues show that the number cannot be 23: ‘twee-’ cannot refer to the decade 20, which is pronounced as ‘twin-’, while ‘der-’ cannot refer to units, which are pronounced as ‘drie’… in a language with the inversion property two negatives make a positive: the irregularity functions as a cue that inversion is necessary.“ Insofern könnte es für Kinder im Niederländischen einfacher sein, die schwer verständlichen Verdrehregeln korrekt anzuwenden als für Kinder im deutschsprachigen Raum. Im Folgenden werden neuro- und entwicklungspsychologische Erkenntnisse zur Auswirkung der irregulären Sprechweise von Zahlen im Deutschen und Niederländischen vorgestellt.
Vorausgeschickt sei das grundlegende, kognitiv-neuropsychologische Triple-Code-Modell von Dehaene & Cohen (1995), wonach Zahlen in drei unterschiedlichen Formen dargestellt und verarbeitet werden: in Wortform, in Ziffernform, d.h. üblicherweise als indo-arabische Ziffernfolgen und in Form einer inneren Vorstellung. Zur Darstellung und Verarbeitung in Wortform gehört z.B. das Wissen über die Zahlwörter in ihrer geordneten Reihe; zur Ziffernform etwa die Handhabung von mehrstelligen Zahlen oder das Urteilsvermögen über die Teilbarkeit einer Zahl durch 2; zur inneren Verarbeitungs- und Darstellungsform die Vorstellung der Lage von Zahlen auf einem gedachten Zahlenstrahl, das Subitizing (unmittelbares Erkennen des Umfangs einer Menge, d.h. ohne die Elemente zu zählen) oder das Abschätzenkönnen der Umfänge von Mengen (ohne die Elemente exakt zu zählen). Zwischen diesen drei Formen finden ständig Übersetzungen statt; es wird eine Form in die andere „transkodiert“ (anschaulich erläutert in Gerster & Schultz, 2004, S. 225 f., in Anlehnung an die Darstellung des Triple-Code-Modells durch von Aster). Eine Übersetzung von einer Form in die andere kann auch unter Beteiligung der dritten Form stattfinden (Helmreich et al 2011, Möller et al 2015a, Neuherz 2016, Steiner 2021). Das Triple-Code-Modell verdeutlicht, dass die Transkodierung zwischen diesen drei Formen eine wesentliche Basisleistung beim flexiblen Einsatz von Zahlen darstellt.
Prof. Hans-Christoph Nürk, Universität Tübingen, und seine Mitarbeiter untersuchten die Auswirkung einer irregulären Zahlensprechweise in vielen neuropsychologischen Projekten, insbesondere unter Berücksichtigung der Transkodierproblematik. Frei zugängliche Übersichten enthalten Klein et al. 2013 und das von Dowker und Nürk 2017 herausgegebene Sonderheft zu diesem Thema in Frontiers in Psychology. Zudem sind relevante Befunde von niederländischen Psychologen erhoben worden (z.B. van der Ven et al. 2017). Folgende Ergebnisse können festgehalten werden:
1. Die verdrehte Zahlensprechweise behindert eine effektive Transkodierung (hier und im Folgenden: Übersetzen von gesprochenen Zahlwörtern in die geschriebene indo-arabische Notation der Zahlen) und dies hat einen nachhaltigen Einfluss auf die mathematische Leistungsfähigkeit bei Schulkindern.
1.1 Transkodierung: Die verdrehte Zahlensprechweise führt zu einer signifikant erhöhten Fehlerhäufigkeit beim Transkodieren. Bei deutschen, österreichischen und flämischen Kindern häuften sich nicht nur Transkodierfehler im Zahlendiktat im Vergleich zu gleichaltrigen italienischen, französischen und japanischen Kindern, sondern es häuften sich insbesondere Inversionsfehler, also Verwechsler von Zehnern und Einern (Nürk et al. 2005a, Zuber et al. 2009, Krinzinger et al. 2011, Möller et al. 2015b). Imbo et al. 2014 bestätigten diese Befunde durch einen Vergleich von Niederländisch und Französisch sprechenden belgischen Kindern, Lemmerer 2019 sowie Frantz 2020 an österreichischen Schulkindern der zweiten Klasse. Krinzinger und Mitarbeiter betonten, wie sehr diese Ergebnisse gesichert sind: "Our results unambiguously showed that French-speaking children were significantly better in writing multi-digit numbers than children whose mother tongue features the inversion principle for two-digit number names, even at an age when children are already expected to master two-digit Arabic numbers according to the curriculum." Poncin et al. 2020 konnten diese Effekte zudem an Kindern aus Belgien nachweisen, die Französisch bzw. Deutsch sprachen und bereits das 4. Schuljahr besuchten: "inverted languages still impose a cognitive cost on number transcoding in fourth graders" This underlines "the importance of language in numerical cognition and suggest that language should be taken into account during mathematics education." Im Tschechischen, wo zwei Zahlensprechweisen existieren (verdreht und stellenwertgerecht) häuften sich Fehler, und speziell Inversionsfehler bei Schulkindern, wenn die Zahlen in verdrehter Aussprache präsentiert werden (Pixner et al. 2011b). Zu dieser Untersuchung ist hervorzuheben, dass es sich um eine Vergleichsstudie innerhalb derselben Kinder handelte (Längsschnittstruktur), so dass die Problematik potentieller Verzerrungen der Ergebnisse durch Unterschiede zwischen den verglichenen Gruppen entfällt.
1.2 Auswirkung auf das Rechnen: Die Fähigkeit, korrekt zu transkodieren, hat wesentliche Bedeutung für mathematische Leistungen in der Grundschule, wie dem Addieren mit Übertrag. Es gibt zudem einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Transkodierfähigkeit im ersten Schuljahr und der mathematischen Leistungsfähigkeit und den Schulnoten für Mathematik im dritten Schuljahr (Möller et al. 2011). Entsprechend zeigten Deutsch sprechende Schulkinder (Alter 7 bis 9 Jahre) deutlich mehr Probleme bei Additionsaufgaben mit Übertrag im Vergleich zu gleichaltrigen italienisch sprechenden Kindern (Göbel et al. 2014). Sie forderten aufgrund dieser Ergebnisse eine bewusstere Auseinandersetzung mit der Unterrichtssprache im Mathematikunterricht: “The structure of the language of instruction is an important factor in children’s numerical development not only in basic numerical tasks such as transcoding or magnitude comparison but also in more complex arithmetic ... the precise nature of the language of instruction should be taken into account for mathematical education.”
2. Die verdrehte Zahlensprechweise behindert das Erfassen von Zahlengrößen. Und dies gilt sowohl für die Ziffernpräsentation der Zahl als auch für die Größenangabe der Zahl auf einer Linie durch Ankreuzen (sog. "mental number line").
2.1 Kompatibilitätseffekt: Der Größenvergleich zweistelliger Zahlen wird von einem sog. Kompatibilitätseffekt überlagert, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen (Nürk et al. 2001, Nürk et al. 2011). Im Zahlenpaar 23 und 48 liegt eine Kompatibilität der Zahlen- und Zifferngrößen vor, da 2<4 und 3<8. Das Zahlenpaar 28 und 43 ist dagegen inkompatibel, da 2<4 aber 8>3. Bei inkompatiblen Zahlenpaaren werden nachweislich mehr Fehler begangen, wenn die größere Zahl genannt werden soll. Dies ist der Kompatibilitätseffekt. Und dieser Effekt ist in Sprachen mit verdrehter Zahlensprechweise statistisch signifikant stärker ausgeprägt, so dass eine erhöhte Fehlerhäufigkeit im Größenvergleich von zweistelligen Zahlen bei Sprachen mit verdrehter Zahlensprechweise auftritt. Dies gilt sowohl für Kinder (Pixner et al 2011a) als auch für Erwachsene (Nürk et al. 2005b). Pixner et al. 2011a verglichen deutsch-, tschechisch- und italienischsprachige Kinder aus dem ersten Schuljahr und fanden den Kompatibilitätseffekt am stärksten ausgeprägt bei den deutschsprachigen Kindern mit verdrehter Zahlensprechweise, am geringsten bei den italienischen Kindern, wo die geringsten Inversionen in der Zahlensprechweise auftreten. Die tschechischen Kinder lagen in der Mitte, wo beide Formen der Sprechweise üblich sind, stellenwertgerecht und verdreht. Der verstärkte Kompatibilitätseffekt in einer Sprache mit verdrehter Zahlensprechweise zeigt sich unter Kindern auch bei mehrstelligen Zahlen (Klein et al. 2013). Bei Erwachsenen ist dies Phänomen deutlich schwächer ausgeprägt (Bahnmüller et al 2015, 2016). Aber in einem Vergleich des Kompatibilitätseffekts bei männlichen Erwachsenen aus Palästina (n=18), Israel (n=30), Deutschland (n=24) und dem Vereinigten Königreich (n=24), d.h. in den Sprachen Arabisch, Hebräisch, Deutsch und Englisch belegten Möller et al. (2015a) in diesem erweiterten Setting (2 allgemeine Schriftrichtungen: links- vs. rechtsläufige Schrift, 2 Drehrichtungen in der Zahlsprache: inverse vs. stellenwertgerechte Sprechweise) ausgeprägte Nachteile bei Verwendung zweistelliger deutscher Zahlwörter, die als einzige doppelt verdreht sind: sowohl gegen die Schreibrichtung als auch gegen die Ordnung des Stellenwertsystems.
2.2 Innere Zahlenlinie: Die verdrehte Zahlensprechweise hat auch einen nachteiligen Einfluss auf die nicht-verbale Zahlengrößenvorstellung auf der sog. „mental number line“. Helmreich et al. 2011 ermittelten, dass die Angabe der Lage von Zahlen auf einer Linie, die nur durch Anfangs- und Endzahl gekennzeichnet war, bei deutschsprachigen Kindern signifikant schlechter ausfiel als bei italienischen Kindern. Insbesondere zeigten die Autoren, dass diese erhöhte Fehlerhäufigkeit wesentlich an Zahlendrehern mit großer Zifferndifferenz lag, also fälschlicherweise z.B. in der Nähe von 82 statt bei 28 markiert wurde. Und dieses Phänomen trat auf, obwohl den Kindern als Aufgabenstellung nur eine geschriebene Ziffernzahl gezeigt wurde, d.h. ohne die Zahl zu versprachlichen. Die Kinder haben also - durchaus dem Triple-Code-Modell entsprechend - nicht direkt von der Ziffernzahl in den zu markierenden Ort auf der Linie (Größenvorstellung) übersetzt, sondern unter Einbezug der Zahlensprechweise. Die Verdrehungen der deutschen Zahlwörter arbeiteten lediglich latent im Hintergrund und verringerten dennoch nachweislich die Leistungsfähigkeit der Kinder. Göbel et al. 2014 folgerten dieses aus ihren Untersuchungen auch für Additionsaufgaben: “that children – even when solving addition problems presented to them in digital Arabic notation – at least coactivate Arabic digits into number words; possibly as some kind of subvocal verbalization of the addition problem.”
3. Zur Erklärung dieser Phänomene wird auf die beschränkte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses hingewiesen (Imbo et al. 2014, Pixner et al. 2011a, Zuber et al. 2009, Xenidou-Dervou et al. 2015). Zur Darstellung des Arbeitsgedächtnisses wird das Baddeley-Modell (Baddeley 1992, Baddeley and Hatch 1974) verwendet, das aus zwei Speichersystemen besteht, einem verbalen Speicher und einem räumlich-visuellen Speicher, sowie einem zentralen Kontrollsystem. Möller et al. 2011 geben operationalisierte Definitionen der drei Komponenten. Hintergründe zur Konstruktion und empirischen Evidenz des Modells gibt Baddeley 2012. Jede syntaktische Regel zur korrekten Transkodierung belastet das System. Die Transkodierung von Zahlen belastet im Wesentlichen das zentrale Kontrollsystem (Imbo et al. 2014, Pixner et al. 2011a, Zuber et al. 2009) und den räumlich-visuellen Speicher (Simmons et al. 2012). Dies Modell des Arbeitsgedächtnisses nach Baddeley postuliert, dass sich die nachteiligen Effekte der verdrehten Zahlensprechweise erst bei höherer Auslastung des Arbeitsgedächtnisses einstellen, also nicht nur bei Kindern zu erwarten sind, sondern auch unter besonderen Belastungssituationen bei Erwachsenen, die die Verdrehregeln der Zahlensprechweise üblicherweise problemlos meistern (van der Ven 2017). Erwartungsgemäß zeigten sich die Nachteile der verdrehten Zahlensprechweise auch in einer schneller erreichten Arbeitsspeicherüberlastung unter Niederländisch im Vergleich zu Englisch sprechenden Kindergartenkindern (Xenidou-Dervou et al. 2015). Zuber et al. (2009) konnten in ihrer Studie belegen, dass invers strukturierte Zahlwörter das Erlernen von numerischen Kompetenzen erschweren können. Dabei zeigten sich - entsprechend dem Baddeley-Modell - größere Nachteile für Kinder mit einer geringeren Kapazität des Arbeitsgedächtnisses (Zuber et al. 2009, S. 75 f.). Dies Modell könnte auch die etwas unklaren Effekte erklären, die beim Vergleich von erwachsenen belgischen Personen gefunden wurden, die fließend Niederländisch (n=24) oder Französisch (n=24) sprachen, d.h. bei Studierenden mit eingeübter verdrehter bzw. eingeübter unverdrehter Zahlensprechweise (Brysbaert et al. 1998). Es ergaben sich zwar erwartungsgemäß Unterschiede in der Bearbeitungsdauer je nach Präsentation von Additionsaufgaben mit verschiedener Reihenfolge von Zehnern und Einern, d.h. z.B. als 4+21 (günstiger bei verdrehter Sprechweise, da die Einer aufeinander folgen: vier + einundzwanzig = fünfundzwanzig) oder 21+4 (günstiger bei unverdrehter Sprechweise, da die Einer aufeinander folgen: zwanzigeins + vier = zwanzigfünf), aber nur wenn die Ergebnisse versprachlicht werden mussten, jedoch nicht, wenn die Ergebnisse von den Probanden dezimal an einer Tastatur eingegeben wurden. Im letzteren Fall wird bei verdrehter Sprechweise durch die zusätzliche Belastung des Rückdrehens bei der Eingabe der zunächst bestehende Vorteil der Korrespondenz von 4+21 mit der verdrehten Sprechweise aufgehoben. Brysbaert et al. 1998 ist eine der ersten Untersuchungen der Effekte einer verdrehten Sprechweise und verwendet einen für Erwachsene sehr niedrigen Schwierigkeitsgrad der Aufgaben, so dass vermutlich keine genügende Belastung des Arbeitsgedächtnisses vorlag, um den Vorteil der stellenwertgerechten Zahlensprechweise überzeugender zu präsentieren.
4. Die bislang besprochenen Befunde beruhen auf gezielt geplanten psychologischen Untersuchungen an Studiengruppen mit jeweils weniger als 200 Probanden. Die Psychologen van der Ven et al. 2017 stellten die Resultate einer breit angelegten Untersuchung an 25620 niederländischen Kindern vor, und deckten dabei den Bereich von dem letzten Kindergartenjahr bis zum 6. Schuljahr ab, dem Ende der Grundschulzeit in den Niederlanden. Die Verteilung war: 961 (44% Mädchen) aus Kindergärten, 3915 (47%) aus dem 1. Schuljahr, 5113 (48%) aus dem 2., 5080 (49%) aus dem 3., 4399 (48%) aus dem 4., 3596 (49%) aus dem 5. und 2556 (46% Mädchen) aus dem 6. Schuljahr. Die Studiendauer betrug 4 Monate, von Februar bis Mai 2013. Es wurden Transkodieraufgaben gestellt, die Arbeitsspeicherkapazitäten erhoben und die arithmetische Leistungsfähigkeit ermittelt. Hierzu wurde eine webbasierte Erhebung mittels des Programms „Math Garden“ durchgeführt. Die Aufgabenstellungen wurden im Schwierigkeitsgrad so adjustiert, dass der Anteil der richtigen Aufgaben im Durchschnitt in allen Jahrgängen bei 75% lag.
4.1 Transkodierung: Die Kinder lösten insgesamt 4218372 Transkodieraufgaben, wobei in diesen Zahlendiktaten alle zweistelligen und 290 dreistellige Zahlen vorkamen. Die Inversionsfehlerrate ist im 2. Unterrichtsjahr am höchsten, sie sinkt aber nicht im höheren Alter der Kinder auf Null, sondern liegt ab dem 4. Schuljahr konstant auf 10% (entsprechend dem Baddeley-Modell des beschränkten Arbeitsspeichers sind Inversionsfehler auch im 6. Schuljahr zu erwarten, wenn die Anforderung an die Transkodierung hinreichend hoch ist). Der Anteil der Kinder, die keine Inversionsfehler machten, lag im 2. Schuljahr bei 8%, aber selbst im 6. Schuljahr immer noch deutlich unter 50%. Der Anteil der Kinder, denen sehr viele Inversionsfehler unterliefen, d.h. mindesten 50%, lag in der 2. Klasse bei 8% und in der 6. Klasse bei 1%. Also gab es bis zum 6. Schuljahr Kinder, die die Inversionsregeln grundsätzlich nicht anwenden konnten. Diese Ergebnisse sind bemerkenswert, da keine Inversionsfehler in Studien beobachtet wurden, die Sprachen ohne Drehungen in der Zahlensprechweise untersuchten (Klein et al. 2013).
4.2 Zahlentyp: Die Fehlerhäufigkeit bei Transkodierung variierte erwartungsgemäß mit dem Zahlentyp. Wenn 1 oder 2 als Ziffern in der Einerstelle der zweistelligen Zahlen vorkamen, waren die Fehlerhäufigkeiten reduziert gegenüber den Ziffern 3 bis 9. Eine Ausnahme bilden die Zahlen mit identischen Ziffern, wie 44, 55, 66 usw. So war die Fehlerhäufigkeit bei z.B. 88 signifikant niedriger als bei den Nachbarzahlen 87 und 89, bei denen sich eine Vertauschung der Ziffern auswirkt. Bei den dreistelligen Zahlen bildeten Vertauschungen der Zehner und Einer die häufigsten Fehler.
4.3 Arbeitsspeicherkapazität (visuell-räumlicher Speicher inkl. zentrales Kontrollsystem): Die Arbeitsspeicherkapazität war hoch mit der mathematischen Leistungsfähigkeit korreliert. Diese Beziehung wird durch die individuelle Transkodierungsfähigkeit moduliert, d.h. dass bei gleicher Arbeitsspeicherkapazität eine höhere Fehlerrate in den Transkodieraufgaben mit einer niedrigeren mathematischen Leistungsfähigkeit einherging. Dies bestätigt die oben dargestellten Befunde von Möller et al. 2011. Der individuelle Anteil an Inversionsfehlern zeigte ebenfalls einen modulierenden Einfluss.
Pixner et al. (2011b) folgerten: "We conclude that the development of numerical cognition does not only depend on cultural or educational differences, but is indeed related to the structure and transparency of a given number-word system" ": a more transparent number-word system which retains the order of tens and units in its number words represents an advantage for the development of children's transcoding abilities" and this "may also be important for more complex arithmetical tasks". Und weiter: "We suggest that the influence of language properties such as inversion/noninversion of two-digit numbers should be acknowledged in number processing and calculation tasks and especially so in teaching or training children with mathematical difficulties" (Pixner et al 2011a).
Damit stellt sich die Frage, ob die Verwendung einer stellenwertgerechten Sprechweise im Deutschen zu Nachteilen führt. Lonnemann und Yan (2015) untersuchten 40 “native speakers”, 20 chinesische Erwachsene (19 Frauen) in China und 20 deutsche Erwachsene (15 Frauen) in Deutschland. Es wurden 45 Additionsaufgaben mit zweistelligen Zahlen ab 21 gestellt, und zwar so, dass alle Ergebnisse zwischen 42 und 99 lagen. Die Aufgaben wurden in je zwei Versionen diktiert, mit verdrehten (üblich im Deutschen, unüblich im Chinesischen) und unverdrehten Zahlwörtern (unüblich im Deutschen, üblich im Chinesischen). Gemessen wurden die Reaktionsdauern und die Fehlerraten bei Eingabe am Computer. Die chinesischen Personen benötigten signifikant länger und ihnen unterliefen signifikant häufiger Fehler bei Verwendung der ungewohnten, verdrehten als bei Verwendung der üblichen, unverdrehten Zahlwörter. Die deutschen Personen zeigten dagegen geringere Reaktionszeiten und niedrigere Fehlerraten (wenn auch nicht statistisch signifikant) bei Diktaten in der unüblichen, stellenwertgerechten als in der üblichen, verdrehten Zahlensprechweise. Lonneman und Yan folgerten: “Thus, even in neurologically healthy adults processing of inverted number words seems to affect arithmetic processes… difficulties induced by inverted number words during the acquisition of numerical and arithmetic skills do not disappear in adulthood, highlighting the importance of finding ways to deal with inversion-related difficulties in mathematics education.” Die Studienergebnisse falsifizierten die Hypothese, dass die Verwendung stellenwertgerechter Zahlwörter im Deutschen zu Verwirrungen und zu Nachteilen bei Personen führt, die langjährig die traditionell-verdrehte deutsche Zahlensprechweise trainiert haben.
Die Befunde zu Deutsch und Niederländisch sprechenden Kindern entsprechen dem Ergebnis eines systematischen Reviews (Ng and Rao 2010), wonach die nachgewiesenen Leistungsvorteile in Mathematik unter Schulkindern aus den pazifisch-asiatischen Staaten nicht vollständig durch kulturelle Unterschiede (z.B. Erziehungssystem, Motivation sowie Unterstützung durch das Elternhaus) erklärt werden können, sondern auch durch den Vorteil der regulären Zahlensprechweise bedingt sind. Und dies sollte im Mathematikunterricht angemessen berücksichtigt werden, insbesondere bei Schulkindern mit Schwächen in Mathematik. Der fehlende Einfluss potentieller Interferenzen (gegenseitige Störungen der Sprechweisen) motiviert zu Unterrichtsversuchen mit einer stellenwertgerechten Sprechweise (vgl. auch Zwanzigeins – Arabisch vs. Hebräisch).
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