Walisisch (Kymrisch), Tamil, Chinesisch vs. Englisch

Bis ca. 1650 erfolgte im Englischen die vorrangige Umstellung auf die heutige unverdrehte Sprechweise der Zahlen unter 100, jedoch unverdreht erst ab der Zahl 21. Bereits im Jahr 1798 kritisierten Edgeworth und Edgeworth in ihrer Publikation die reformierte englische Zahlensprechweise als irregulär, weil man Zahlen unter 20 nach einer abweichenden Logik ausspricht, und sie sahen dies als Nachteil. Um 1850 wurde in Wales eine Reform der Zahlensprechweise durchgeführt. Diese Umsetzung war konsequenter und betraf auch die Zahlbenennungen unter 20. Das reformierte Walisische Zahlensprechsystem entspricht dem strikten dekadischen System asiatisch-pazifischer Sprachen, wie Chinesisch, Koreanisch und Japanisch. So wird 11 als un deg un (eins zehn eins), 12 als un deg dau (eins zehn zwei) und 22 als dau ddeg dau (zwei zehn zwei) gesprochen (siehe auch https://en.wikipedia.org/wiki/Welsh_numerals). Dieses vollständig reguläre System kennt also keine Drehungen der Zehner- und Einerstelle aber auch keine intransparenten Sondernamen für z.B. 20, 30, 40 (zwanzig, dreißig, vierzig oder twenty, thirty, forty), sondern benennt diese Dekaden nach ihrer Bedeutung im Stellenwertsystem als zweizehn, dreizehn, vierzehn, d.h. als zwei Zehner, drei Zehner, vier Zehner.

In Wales ergibt sich die ungewöhnliche Gelegenheit, die Auswirkungen einer strikt regulären und transparenten Zahlbenennung im Vergleich zu einer teilweise irregulären und intransparenten Zahlensprechweise (insbesondere von 11 bis 19) auf die mathematische Leistung von Schulkindern zu untersuchen, da in Wales beide Systeme (Walisische und Englische Zahlensprechweise) in unterschiedlicher Ausprägung benutzt werden.

Der Zwanzigeins-Vorstand hat zu Dr. Ann Dowker von der Universität Oxford Verbindung aufgenommen, die die Untersuchungen leitete (siehe auch Arbeitsgruppe "Empirische Studien"). Ann Dowker stellte die in der Literaturliste unten aufgeführten Publikationen zur Verfügung, die im Folgenden besprochen werden.

Dowker und Mitarbeiter von der Universität Oxford untersuchten mathematische Leistungen von 60 Schulkindern aus drei primary state schools (Grundschulen) in South Wales mit ähnlichem sozio-ökonomischen Hintergrund (Dowker und Lloyd 2005, Dowker et al. 2008). Je 10 Kinder im Alter von 6 Jahren und von 8 Jahren nahmen pro Schule teil. Die erste Schule (WW) war eine „Welsh-medium school“, also eine Grundschule, an der in Walisisch (Kymrisch) unterrichtet wurde (W…). Diese Schule lag in einem Tal, in dem vorwiegend Walisisch gesprochen wurde; entsprechend war die Muttersprache der Kinder Walisisch (…W). Die zweite Schule (WE) war ebenfalls eine „Welsh-medium school“, wo in Walisisch unterrichtet wurde (W…), aber diese Schule lag in einer Gegend, wo vorwiegend Englisch gesprochen wurde (…E). Als dritte Schule (EE) wurde eine „English-medium school“ gewählt, an der in Englisch unterrichtet wurde (E...). Im Einzugsbereich der Schule wurde Englisch gesprochen (...E). Die Gegenüberstellung von WW, WE und EE in den mathematischen Leistungen der 60 untersuchten Schüler enthält der Beitrag “Linguistic influences on numeracy“ von Ann Dowker und Delyth Lloyd im dem nachstehenden Bericht der School of Education, University of Wales, Bangor, 2005.

Dowker_Lloyd_2005-Mathematics_Primary_School.pdf

In einem standardisierten Basistest zur numerischen Kompetenz (BAS-Test, British Abilities Scale Number Skills Test) zeigten sich zwischen den drei Schulen zwar keine statistisch signifikanten Unterschiede, jedoch ergaben die Tests tendenziell bessere mathematische Leistungen in WW als in WE, sowie bessere Leistungen in WE als in EE (vgl. Table 1 in Dowker und Lloyd 2005). Die Forscher führten darüber hinaus spezielle Tests durch, in denen jedem Kind 24 Paare zweistelliger Zahlen schriftlich in indisch-arabischen Ziffern präsentiert wurden. Beide Zahlen eines Paars mussten vorgelesen und dann unmittelbar die größere der beiden Zahlen angezeigt werden. Dabei wurden den Kindern u.a. Zahlenpaare mit gedrehten Ziffern präsentiert (wie 76 und 67, 25 und 52) und solche Paare, wo die zweite Ziffer der kleineren Zahl größer als die Summe der Ziffern der größeren Zahl waren (z.B. 51 und 47, 19 und 21). Es wurden pro Schüler und Zahlenpaar folgende Ereignisse notiert: Lesefehler, ein zunächst falsches Anzeigen der größeren Zahl mit anschließender Korrektur, endgültiger Anzeigefehler. In diesen Tests zeigten die 8-jährigen Kinder durchgängig bessere Leistungen als die 6-jährigen (wie erwartet). Hauptergebnis: Die Fehleranteile variierten statistisch signifikant mit den Schulen und zwar in steigender Folge WW (geringste), WE (mittlere), EE (höchste Fehlerhäufigkeit), vgl. Table 2 in Dowker und Lloyd 2005.

In einer Folgeuntersuchung (Dowker und Roberts 2015) wurde an je 20 Grundschulkindern aus den zweiten Klassen einer „Welsh-medium school“ und aus den zweiten Klassen zweier „English-medium schools“ untersucht, ob das Zahlenverständnis unterschiedlich entwickelt war. Die Kinder mussten die Lage visuell präsentierter Zahlen (in indisch-arabischen Ziffern, z.B. 15) auf freien Linien markieren, deren Endpunkte mit 0 und 20 bzw. 0 und 100 bezeichnet waren. Die numerische Kompetenz (BAS-Test) der Kinder korrelierte signifikant mit diesem Linientest. Hauptergebnis: Kinder von der „Welsh-medium school“ konnten die Zahlen besser auf den Linien abbilden als die Kinder aus den beiden Schulen, wo in Englisch unterrichtet wurde (statistisch signifikanter Unterschied).

Die Arbeitsgruppe erweiterte die Untersuchungen (Dowker et al. 2008) und verglich 29 Schulkinder aus London mit tamilischem Hintergrund (Alter: 74 bis 114 Monate) mit 27 einsprachig englischen Schulkindern (Alter: 81 bis 113 Monate). Die Zahlenbenennung in Tamil kennt keine Drehungen; also wie im Walisischen oder Chinesischem heißt es regulär zehneins, zehnzwei usw., aber es gibt den Unterschied, dass für die Dekaden wie im Englischen und Deutschen eigene, relativ intransparente Bezeichnungen existieren, also z.B. „zwanzig“ und „dreißig“ statt „zweizehn“ und „dreizehn“. Hauptergebnisse: Die Gruppe der tamilischen Kinder zeigten im Durchschnitt bessere Leistungen im BAS-Test als die allein englischsprachigen Schulkinder, und innerhalb der Gruppe der tamilischen Kinder ergaben sich bessere arithmetische Leistungen (Messung der numerischen Kompetenz mit BAS-Test) je stärker das Tamilische bei den Kindern verankert war. Diese Unterschiede waren statistisch signifikant.

Mark und Dowker 2015 untersuchten 49 Grundschulkinder am Ende der zweiten und vierten Klasse in Oxford (allein englischsprachig, Gruppe EE) und 90 Grundschulkinder am Ende der ersten und dritten Klasse in Hongkong mit Chinesisch als Muttersprache, aber mit englischer Unterrichtssprache (Gruppe CE, n=43) oder chinesischer Unterrichtssprache (Gruppe CC, n=47). Die Zahlenbenennungen sind im Chinesischen transparent aufgebaut und werden vollständig regulär gesprochen, also wie im Walisischen. Hauptergebnisse: Die Kinder aus Hongkong zeigten eine bessere Fähigkeit von 30 rückwärts zu zählen (CC besser als CE, CE besser als EE; statistisch signifikant). Die arithmetischen Fähigkeiten, gemessen im BAS-Test, waren signifikant besser in den Hongkong-Gruppen als in der Oxford-Gruppe, die CC-Kinder aus den dritten Klassen zeigten statistisch signifikant bessere numerische Leistungen als die CE-Kinder.

Die verglichenen Gruppen von Schulkindern wurden in diesen Untersuchungen (Dowker und Lloyd 2005, Dowker et al. 2008, Dowker und Roberts 2015, Mark und Dowker 2015) so gewählt, dass sie im sozioökonomischen Status, im vorgegebenen Curriculum sowie im Alter ähnlich waren. Residuelle Unterschiede in den Einflussgrößen Alter, Intelligenzquotient, Einstellung zur Mathematik und außerschulische Unterstützung in Mathematik (z.B. durch Eltern) wurden in den Studien z.T. zusätzlich geprüft oder in Kovarianzanalysen in Bezug auf die Zielvariablen kontrolliert.

Die Autoren interpretierten ihre Ergebnisse als Beleg dafür, dass ein reguläres Zahlensprechsystem, das die Zahlen zwischen 11 und 19 stellenwertgerecht als zehneins, zehnzwei usw. präsentiert, die Entwicklung des arithmetischen Verständnisses und der numerischen Kompetenz besser unterstützt als ein System, das keine stellenwertgerechte Benennungen zwischen 11 und 19 bietet; und dies gilt selbst dann, wenn in dem System keine Drehungen zwischen 21 und 99 vorliegen (wie im Englischen). Des Weiteren zeigten die Untersuchungen, dass potentielle Interferenzen zwischen verschiedenen Sprechweisen (Walisisch und Englisch, Tamil und Englisch, Chinesisch und Englisch) den Vorteil der stellenwertgerechten Zahlwortbildung nicht aufheben. Die Forscher sehen ihre Ergebnisse im Einklang mit den vielfach berichteten Leistungsvorsprüngen in Mathematik von Grundschulkindern in asiatisch-pazifischen Staaten (TIMSS-Untersuchungen u.a.).

Alexander Bellos schreibt in seinem Bestseller 'Alex's Adventures in Numberland' auf S. 64: „In almost all Western European languages, number words do not follow a regular pattern. ... Between ten and twenty, English is a mess.“

Die Ergebnisse der Untersuchungen von Dowker und Mitarbeitern sind Anlass, bei einer Reform der deutschen Zahlensprechweise den Bereich der Zahlen unter 20 nicht auszusparen. Der geringere Einfluss der potentiellen Interferenzen motiviert zu Unterrichtsversuchen mit einer stellenwertgerechten Sprechweise.

Literatur

Dowker A, Lloyd D (2005) Linguistic influences on numeracy. Education Transaction Series A: The curriculum. Hrsg: WG Lewis, HGF Roberts. School of Education, University of Wales, Bangor.
URL: https://www.bangor.ac.uk/addysg/publications/Mathematics_Primary_School.pdf

Dowker A, Bala S, Lloyd D (2008) Linguistic Influences on Mathematical Development: How Important Is the Transparency of the Counting System? Philosophical Psychology 21( 4): 523-538

Dowker A, Roberts M (2015) Does the transparency of the counting system affect children’s numerical abilities? Front Psychol 6:945. doi: 10.3389/fpsyg.2015.00945

Mark W, Dowker A (2015) Linguistic influence on mathematical development is specific rather than pervasive: revisiting the Chinese Number Advantage in Chinese and English children. Front Psychol 6:203. doi: 10.3389/fpsyg.2015.00203 (Corrigendum publiziert am 16. März 2016, Front Psychol 7:342. doi: 10.3389/fpsyg.2016.00342)