Simultanübersetzungen

Das Auftreten von Zahlwörtern in einer Rede bedeutet eine besondere Herausforderung für die Simultanübersetzung (Mazza 2001, Pinochi 2009, Mondini 2014), weil
- Zahlen, insbesondere längere Zahlen, eine erhebliche Belastung des Arbeitsgedächtnisses darstellen
- Zahlen nicht umschrieben werden können, ohne Fehler zu begehen 
- keine Alternativausdrücke (Reformulierungen) für Zahlen existieren, auf die ausgewichen werden könnte 
- Zahlen in einer Rede üblicherweise nicht redundant präsentiert werden 
- Zahlen aus dem bisherigen Redeverlauf nicht antizipiert oder aus dem Zusammenhang nicht rekonstruiert werden können. 
 
In der Ausbildung werden spezielle Techniken trainiert, um potentiellen Übersetzungsproblemen z.B. mit Umschreibungen oder Reformulierungen entgegenzuwirken. Solche Techniken sind bei fast allen Wortklassen durchaus erfolgreich, aber eben kaum bei Zahlwörtern.
Deshalb sind vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Zahlwort-Problematik besondere Schwierigkeiten für die Simultanübersetzung zu erwarten, wenn zusätzlich in den beiden Sprachen, zwischen denen übersetzt werden soll, voneinander abweichende Zahlwortstrukturen existieren. 

Pinochi (2009) führte ein Experiment mit 16 Studentinnen (Alter: 23 bis 28 Jahre) an der SSLMIT (Scuola Superiore di Lingue Moderne per Interpreti e Traduttori) in Triest, Italien durch. Die Studentinnen waren italienische Muttersprachlerinnen (A-Sprache) und hatten bereits zwei Jahre Übersetzungskurse an der SSLMIT belegt, wobei 8 von ihnen Deutsch als erste Fremdsprache (B-Sprache) und die anderen 8 Englisch als B-Sprache belegt hatten. Alle hatten erfolgreich Examen zur Simultanübersetzung von ihrer B- in die A-Sprache bestanden. Im Italienischen werden die Zahlen von 17 bis 99 stellenwertgerecht gesprochen, im Englischen von 21 bis 99, aber im Deutschen von 13 bis 99 verdreht.

Die Studentinnen mussten in der Studie einen von Band abgespielten gesprochenen Text simultan übersetzen, der viele Zahlwörter enthielt. Es handelte sich um die Rede des Vorstandsvorsitzenden eines Deutschen Automobilunternehmens, die er 2006 in Deutsch gehalten hatte und zu der eine offizielle englische Übersetzung vorlag, die zusätzlich geprüft wurde. Beide Texte enthielten 61 Zahlwörter. Die Texte wurden für die Studie von Muttersprachlern möglichst gleich schnell gelesen und aufgezeichnet (Dauer in Deutsch: 8 min 12 s, in Englisch 8 min 33 s). Die 8 Studentinnen mit Deutsch als B-Sprache übersetzten den abgespielten deutschen Text simultan ins Italienische, die 8 Studentinnen mit Englisch als B-Sprache die abgespielte englische Version simultan ins Italienische.

Die Studie fand eine hohe Fehlerrate bei Zahlen von ca. 40%. Dabei wurden auch Vergröberungen als Fehler gezählt, wie „ca. 100“ oder „viele“ für 125. Dies bestätigte die bei Übersetzern bestehende Einschätzung, dass im Sprachfluss verwendete Zahlwörter für die Simultanübersetzung disruptiv sind und somit eine hohe Herausforderung darstellen. Die Autorin führte eine detailliertere Analyse zu den Zahlwörtern durch, um Umstände zu identifizieren, die besonders abträglich für die Simultanübersetzung von Numeralien sind. Als Hauptergebnis belegte die Untersuchung das Auftreten von auffällig vielen Inversionsfehlern (z.B. 83 statt 38) bei der Übersetzung von Zahlwörtern vom Deutschen ins Italienische, d.h. statistisch signifikant erhöhte Anzahlen solcher Fehler im Vergleich zur Übersetzung vom Englischen ins Italienische. Die Autorin stufte diese Inversionen als bedeutende Fehler ein, da sie das Gemeinte schwerwiegend entstellen können. Als Ursache der erhöhten Inversionsfehlerzahl bei Übersetzungen aus dem Deutschen benannte Pinochi die Drehungen in den deutschen Zahlwörtern, die in dieser Ausprägung weder im Englischen noch im Italienischen existieren. In diesem Zusammenhang wurde auch die Initiative des Vereins Zwanzigeins e.V. ausführlich besprochen. Die Autorin folgerte aus ihrer Studie, dass es wichtig sei, sich beim Erlernen des Simultanübersetzens speziell mit den Zahlwörtern zu beschäftigen und intensiv deren Übersetzung zu üben, um die besonderen Herausforderungen dieser Wortklasse besser beherrschen zu können.

Mondini (2014) führte in ihrer Masterarbeit ein Experiment mit 12 Studierenden am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien durch (6 waren italienisch und 6 deutsch muttersprachlich). Die Studierenden mussten nacheinander zwei Reden simultan dolmetschen, wobei eine aus dem Italienischen ins Deutsche und die andere aus dem Deutschen ins Italienische zu übersetzen war. Die Untersuchung bestätigte, dass Zahlwörter ein besonderes Problem beim Simultandolmetschen darstellen. Die Fehlerrate war bei Zahlen, die aus der Muttersprache (A-Sprache) gedolmetscht werden, geringer als bei Zahlen, die aus der B-Sprache übersetzt wurden. Interessanterweise traten in beiden Richtungen im ähnlichen Umfang Inversionsfehler bei der Übersetzung von Zahlwörtern auf. Die Autorin folgerte, dass häufige Übungen unabdingbar sind, um das richtige Erkennen von Zahlwörtern in einer Sprache und ihre Wiedergabe in einer anderen Sprache möglichst weitgehend zu automatisieren. Ein Vergleich von Deutsch mit einer anderen Sprache ohne oder mit nur wenigen verdrehten Zahlwörtern, wie von Pinochi (2009) durchgeführt, erfolgte leider nicht.

Die Studien zu Simultanübersetzungen belegen eine besondere Problematik in der Zahlen-Kommunikation. Unabhängig von den verwendeten Sprachen bringen Zahlwörter spezielle Herausforderungen mit sich, die bei anderen Wortklassen nicht bestehen. Die Verdrehungen in den deutschen Zahlwörtern stellen nachweislich eine zusätzliche Kommunikationsbarriere dar, welche die ohnehin bereits komplizierte Verständigung über Zahlen noch weiter erschwert.


Literatur

Mazza C (2001) Numbers in simultaneous interpretation. The Interpreters’ Newsletter [SSLMIT Triest] 11: 87-104.

Mondini M (2014) Zahlen beim Simultandolmetschen: ein experimenteller Beitrag im Sprachenpaar Deutsch-Italienisch. Masterarbeit im Studiengang Dolmetschen, Universität Wien. 

Pinochi D (2009) Simultaneous Interpretation of Numbers: Comparing German and English to Italian. An Experimental Study. The Interpreters’ Newsletter [SSLMIT Triest] 14: 33–57.